100 Jahre Ostfreeslandkalender
Der unverwechselbare Begleiter durch bewegte und ruhige Zeiten.
Glückwunsch und Tusch! Mit der vorliegenden Ausgabe 2014 feiert der Ostfreeslandkalender ein rundes Jubiläum: Der unverwechselbare und unentbehrliche Begleiter durch bewegte und ruhige Zeiten ist 100 Jahre alt. Seine vielseitigen Beiträge und nützlichen Informationen haben ihn seit 1914 über viele Generationen hinweg weithin bekannt gemacht. Trotz des hohen Alters – für Ostfriesen keine Seltenheit – ist das Jahrbuch jung wie eh und je. Mehrere „Schönheitskuren“, auffrischende Neuerungen und Nachbesserungen, machten es möglich. Vier Mal musste die Publikation wegen Papierknappheit allerdings eine Zwangspause einlegen: 1944 auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges und in der Zeit danach bis 1947. Deshalb liegt mit der jetzt erschienenen Ausgabe rein rechnerisch „erst“ der 97. Jahrgang vor – auf den ersten Blick etwas verwirrend, aber logisch.
Als der Norder Zeitungs- und Buchverlag Diedrich Soltau (später Heinrich Soltau, heute Soltau-Kurier-Norden SKN oder auch Ostfriesland Verlag – SKN) vor 100 Jahren den ersten Ostfreeslandkalender herausgab, betrat das Unternehmen allerdings kein Neuland. Denn außer der 1867 gegründeten Lokalzeitung Ostfriesischer Courier (später Kurier) und diversen Büchern hatte der Verlag schon einige Kalender-Vorgänger unter die Leute gebracht, darunter ab 1864 den „Hausfreund“ und von 1876 bis 1913 das Jahrbuch „Christophorus der Stelzfuß“, dessen erste Ausgabe 1875 im Auricher Dunkmann-Verlag erschienen und von dort übernommen worden war. Kuriose Titel dieser Art waren dem Leserpublikum seit dem 18. Jahrhundert, als in Deutschland die ersten Haus- und Heimatkalender auf den Markt kamen, durchaus vertraut. Die merkwürdigen Bezeichnungen erinnerten an Invaliden, die in Kriegszeiten ein Bein verloren und es durch einen hölzernen Stelzfuß ersetzt hatten. Um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, zogen manche von ihnen mit Kramwaren über Land, verbreiteten Flugblätter mit den neuesten Nachrichten und verkündeten auch sonst allerlei Wissenswertes. Das berühmteste Beispiel dieser Kalendergattung ist der „Lahrer Hinkende Bote“, der seit über 200 Jahren auch heute noch in ungebrochener Tradition besteht.
39 Jahre lang hinkte der „Stelzfuß“ aus dem Norder Soltau-Verlag als symbolische Titelfigur auf dem Kalenderumschlag durch die Lande. Als Herausgeber zeichnete bis zum 25. Jahrgang der zunächst in Victorbur, dann in Werdum und zuletzt in Leer tätige lutherische Pastor Martin Christian Daniel Hafermann verantwortlich. Mit seiner aus Norden stammenden Ehefrau hatte er acht Söhne, die ebenfalls Pastoren wurden, und drei Töchter, die allesamt Seelsorger heirateten. Hafermann veröffentlichte vor allem moralisierend-erbauliche, christlich oder vaterländisch geprägte Beiträge und allgemeinen Unterhaltungsstoff, aber auch schon Informationen zum kirchlichen, schulischen und wirtschaftlichen Leben in Ostfriesland. In der Ausgabe 1876 beschrieb der Kalendermann sich selbst und sein Werk mit den Worten: „Geburt: deutsches Vollblut; Statur: kurz und gut; die Stirn: frank und frei; das Aug: einfältig treu; die Nase: kühn und keck; Herz: auf dem rechten Fleck; Gesichtsfarbe: frisch mit rothen Backen, doch sitzt ein kleiner Schelm im Nacken; Charakter: schlecht und recht, beid’ gegen Herrn und Knecht; der Gang: langsam, jedoch fortschrittlich; die Tracht ist einfach ländlich sittlich; Profession: Kalendermann, mit Rath und That für Jedermann; besondere Kennzeichen: rechts Stelzfuß.“
Im Spätsommer 1913, ein Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, kündigte der Soltau-Verlag die Premiere des Ostfreeslandkalenders auf das Jahr 1914 an. Als Ersatz für den „Stelzfuß“ und zugleich dessen Nachfolger werde sich die Neuerscheinung „in Einrichtung und Ausstattung“ dem bisherigen Kalender anpassen, hieß es in einer Mitteilung. Am inhaltlichen Konzept änderte sich denn auch vorerst nur wenig. Als erster Herausgeber sorgte Pastor Leemhuis, der mit dem „Stelzfuß“ ja schon Erfahrungen gesammelt hatte, für Kontinuität. Der Verlag wollte mit dem neuen Titel einen eindeutigen Bezug zu Ostfriesland herstellen und einen breiteren Leserkreis in der Region ansprechen. Der stärkste Mitbewerber auf dem heimischen Kalendersektor war um diese Zeit der Verlag Zopfs in Leer, dessen „Stoorke“-Kalender mit einem Storch auf dem Umschlag seit 1843 und bis in die 1960er-Jahre vor allem in den südlichen Landesteilen sehr populär war.
In einer Auflage von 7500 Exemplaren ging der „grüne Kalender“ aus Norden, wie er im Volksmund bald hieß, vor 100 Jahren an den Start und eroberte sich mit steigenden Auflagen rasch einen festen Platz auf dem Büchermarkt. Die erste Ausgabe enthielt unter anderem einen sechs-seitigen Huldigungsartikel auf den deutschen Kaiser Wilhelm II. zu dessen 25-jährigem Regierungsjubiläum, zwei hochdeutsche Erzählungen, Beiträge über das ostfriesische Bauernhaus und über das Kirchenbuch der Gemeinde Hatshausen, Skizzen aus Emdens Stadtgeschichte sowie einen Rundgang über die wachsende Insel Memmert. Eingestreut waren hoch- und plattdeutsche Anekdoten und drei Rätselseiten. Unter der Überschrift „Im Spiegel der Zeit“ verfasste Herausgeber Leemhuis eine patriotisch gefärbte Betrachtung zur deutschen Innen- und Außenpolitik der vergangenen Monate. Das von ihm gewählte Leitmotiv, das auch spätere Bearbeiter lange beibehielten, lautete: „Meine Heimat – meine Welt, doch die Welt nicht Heimat mir.“ Die patriotische Tendenz verstärkte sich, als der Erste Weltkrieg und die Folgen in den Jahrgängen von 1915 bis 1919 ihre Schatten auf den Inhalt warfen.
In dieser Periode räumte der Kalendermann dem Kriegsgeschehen in Schilderungen von Fronterlebnissen und Erörterungen zur militärischen Lage relativ viel Platz ein und reduzierte dadurch den Anteil von heimatkundlichen, literarischen und unterhaltenden Beiträgen. Dennoch erreichte die Publikation gerade in dieser Zeit Auflagenhöhen zwischen 15.000 und 20.000 Exemplaren. In der Ausgabe 1920 führte Leemhuis den „Toornhahntje“ mit dem bis heute traditionellen Rückblick auf das jeweils voraufgegangene Jahr ein. Mit der Ausgabe 1921 gab er sein Amt als Herausgeber auf; er starb 1950. Unter seiner Federführung hatte sich der Kalender in Ostfriesland und weit darüber hinaus fest etabliert; die Nachfolger konnten darauf aufbauen.
Einen wesentlichen Anteil an dem bis heute typischen Erscheinungsbild des Jahrbuches hatte von Anfang an der 1946 verstorbene Maler und Grafiker Ludwig Kittel aus Dornum. Von ihm stammen nicht nur das vertraute Schiffs- und Mühlenmotiv auf dem Umschlag (nach wie vor ein Markenzeichen mit hohem Wiedererkennungswert), sondern auch die Monatsleisten im Kalendarium und die Titelzeichnung für den „Toornhahntje“. Sie haben den Wandel der Zeiten überdauert und sind den wechselnden Stilrichtungen und dem jeweiligen Zeitgeist nicht zum Opfer gefallen. Kittel schöpfte seine heimatbetonten, vom Naturalismus beeinflussten Motive vor allem aus dem ländlichen Volksleben und der ostfriesischen Landschaft. Das regionale Kulturgut und das Kunsthandwerk spiegelten sich in Aufsätzen wider, die er zusätzlich für den Ostfreeslandkalender verfasste und bebilderte. Seit jungen Jahren entwickelte er eine eigene volkstümliche Bildersprache und Ausdrucksform, der er zeit seines Lebens treu blieb. Der Nachwelt hinterließ der schaffensfreudige Künstler eine Fülle von Zeichnungen, farbigen Aquarellen, Buchillustrationen und anschaulich gestalteten Ehrenurkunden.
Mit Beginn der 1920er-Jahre erschienen im Ostfreeslandkalender zunehmend Aufsätze zu regionalen Sachthemen aus der Feder bekannter Wissenschaftler und Schriftsteller wie beispielsweise Dodo Wildvang, Peter Zylmann, Otto Leege oder Jan van Dieken. Sie steigerten die inhaltliche Qualität und enthielten zuverlässiges Quellenmaterial. Begabten Erzählern und Dichtern wie Arend Dreesen, Wilhelmine Siefkes, Berend de Vries, Peter Smidt, Johann Schoon, Hinrich Schoolmann und Johann Friedrich Dirks bot der Kalender eine willkommene Plattform und machte sie somit einem breiten Publikum bekannt. Die Auswahl der hoch- und plattdeutschen Texte verriet Fingerspitzengefühl. Ab 1921 veröffentlichte Pastor Dr. Heinrich Reimers in der neu eingeführten Rubrik „Upstalsboom“ zahlreiche Geschichtsdarstellungen, aus der nachfolgende Historiker-Generationen immer wieder zitierten. Der Rückblick im „Toornhahntje“ beleuchtete zwar kritisch, aber nicht abwertend die allgemeinen politischen Verhältnisse während der Weimarer Republik, hielt andererseits aber auch eine Fülle wichtiger Daten und Ereignisse aus Ostfriesland fest. Und vorn im Kalendarium blieb stets ausreichend Platz für Notizen; hier trugen vor allem ländliche Leser gern ihre eigenen Saat- und Erntetermine ein.
Nachdem die Nationalsozialisten Ende Januar 1933 in Deutschland an die Macht gekommen waren, passten sich die Kalendermacher und manche Autoren mehr oder minder bereitwillig, auf jeden Fall aber vom „neuen Kurs“ überzeugt, der in allen Medien vollzogenen ideologischen Gleichschaltung an. Vor allem der „Toornhahntje“ stellte sich ganz und gar in den Dienst der braunen Machthaber und pries immer aufs Neue den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler als „Retter unseres Vaterlandes“. Es bleibt die Frage, ob diese eindeutige, unverhohlene Tendenz in einem üblicherweise eher „harmlosen“ Jahreskalender überhaupt notwendig und am Platze war. Gleichwohl bildeten während der NS-Zeit wertvolle Beiträge aus dem Bereich der Heimatkunde sowie unverfängliche Erzählungen und Gedichte auch weiterhin den Schwerpunkt des Leseangebots. In den letzten Jahrgängen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 erlangten vor allem humorvolle plattdeutsche Geschichten aus der Feder des Lehrers Hermann Tjaden, der aus dem Krieg nicht zurückkehrte, geradezu Kultstatus, „Vertellsels“ wie „Mien lüttje Scholbödels beläben de Wiehnachtstied“ oder „De Luftballonkoop“ (siehe die folgenden „Lesefrüchte: 10 Texte aus 10 Jahrzehnten“) werden auch heute noch gern vorgelesen.
Die drei von 1940 bis 1943 noch erschienenen Ausgaben im Zweiten Weltkrieg brachten zwar einerseits auch weiterhin heimatkundliche Aufsätze, rückten aber andererseits immer mehr nationalsozialistische Propaganda, Durchhalteparolen, Hitler-Zitate und Würdigungen für hohe NSDAP-Funktionäre in den Vordergrund. Der „Toornhahntje“ verbreitete markige Aussagen wie beispielsweise „Ein Reich wie das deutsche, dessen Kraft aus den Wurzeln gesundesten Volkstums strömt, beantwortet die Frage des Schicksals nach der Bewährung mit der Bekundung des Willens zur Unsterblichkeit“. Und Martha Stölting dichtete: „Es gibt nur eine Treue, ein Vaterland, und auch nur einen Führer, von Gott gesandt!“ Als „Soldatengruß“ im Rahmen der Wehrmachtsbetreuung ließ die NS-Kreisleitung Norden-Krummhörn 1942 einen inhaltlich verkürzten Sonderdruck des „zivilen“ Kalenders erstellen; er konnte den Paketen an die Front beigelegt werden. Mit 96 Seiten war der folgende 30. Jahrgang (1943) eine stark gestraffte „Kriegsausgabe“ ohne den Informationsteil. Von 1944 bis 1947 musste der Kalender sein Erscheinen ganz einstellen. Angesichts der angeordneten Papier-Rationierung für Zeitungen, Bücher und andere Druckerzeugnisse hatte der Verlag keine andere Wahl. Bis zu dem kriegsbedingten Einschnitt waren seit 1914 nacheinander Pastor Leemhuis (Jahrgänge bis 1921), der Kurier-Redakteur A. Asten (1922; 1923 nicht bekannt), der Norder Studienrat Dr. Friedrich Windberg (1924-26) sowie die Kurier-Chefredakteure Diedrich Gerhard Soltau (1927-1941) und Paul Finger (1942/43) für den Inhalt verantwortlich.
Die „Wiedergeburt“ des Ostfreeslandkalenders nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte 1948 im 31. Jahrgang – auf schlechtem Papier, aber befreit von ideologischem Ballast. Die Beiträge auf wiederum nur 96 Seiten befassten sich mit geschichtlichen und naturkundlichen Themen. Die ebenso karg bemessene Ausgabe 1949 enthielt jedoch immerhin eine erste fundierte Aufarbeitung der Kriegs- und Nachkriegsereignisse in Ostfriesland. Eine derart zeitnahe Übersicht gab es bis dahin in keiner anderen regionalen Publikation. Mit Genehmigung der britischen Militärregierung erschienen die bei Heinrich Soltau in Norden gedruckten Jahrgänge 1948 und 1949 in der Aschendorffschen Verlagsbuchhandlung in Münster und 1950 im Friesen-Verlag von Ufke Cremer, Peter Zylmann und Weert Albers. Erst 1951 konnte der Soltau-Verlag die Herausgabe wieder übernehmen. In kurz gehaltener Form wurde 1952 das Behördenverzeichnis wieder aufgenommen und in den folgenden Jahrzehnten ständig erweitert. Immerhin hatte auch dieser Teil den guten Ruf des Kalenders als verlässliches ostfriesisches „Staatshandbuch“ für wichtige Adressen einst begründet. 1953 meldete sich auch der „Toornhahntje“ zurück und entwickelte sich von da an zu einem objektiv und ausgewogen verfassten Spiegelbild der Zeit, zu einer Chronik der innen- und außenpolitischen sowie der regionalen Ereignisse und Vorgänge.
In den ersten Ausgaben der Nachkriegszeit ließen die Kalendermacher im Leseteil vorwiegend bewährte und renommierte Autorinnen und Autoren aus früheren Zeiten zu Wort kommen, danach jedoch erweiterten sie von Jahrgang zu Jahrgang den Kreis der Fachautoren sowie der hoch- und plattdeutschen Schriftsteller und Lyriker und boten vor allem auch bis dahin unbekannten Namen eine Plattform. Beispielhaft wurden lebende Künstler und zeitlos gültige Kunstwerke vorgestellt. Neu hinzu kamen Themen aus der jüngeren ostfriesischen Zeitgeschichte und dem Umweltsektor. Ohne den Charakter dieses typischen Haus- und Heimatkalenders grundlegend zu verändern, erfolgten nach und nach behutsam und unaufdringlich immer wieder Verbesserungen und „Verjüngungskuren“. In den jüngsten Ausgaben lockern mehr Fotos und mehr Farbe den Inhalt auf. Seit 2006 steht das vertraute Kittel-Motiv auf einem neuen smaragdgrünen Umschlag. Die Mischung aus Unterhaltung und Besinnung, historischer Landeskunde und Information wird gewahrt. Tradition, Kontinuität und Fortschritt halten sich die Waage.
Seit der ersten Nachkriegsausgabe 1948 zeichneten nacheinander der Norder Studienrat Ufke Cremer (1948-1952), der Kurier-Chefredakteur Oskar Kraeft (1953-1966), der Kurier-Verlagsleiter Heinrich Siever (1967-1977), die Kurier-Verlegerin Ursula Basse-Soltau (1978-1988), der Kurier-Chefredakteur Johann Haddinga (1989-2005) und Reinhard Former, Chefredakteur des Ostfriesland-Magazins, (2006-2013) für den Inhalt verantwortlich. Für die vorliegende Jubiläumsausgabe 2014 ist dies
Dr. Lübbert R. Haneborger, Chef vom Dienst des Buchverlages SKN.
Es ist kein Wunder, dass der nunmehr 100 Jahre alte Ostfreeslandkalender einen hohen Sammlerwert hat. Die älteren Ausgaben sind nur noch selten in Antiquariaten oder im Internet zu finden, die jüngeren werden häufig auf Basaren und bei ähnlichen Gelegenheiten angeboten oder sind noch im Bestand des Verlages vorhanden. Wer alle Jahrgänge seit 1914 besitzt, hat einen Schatz im Bücherschrank – und eine Fundgrube dazu.